Soziale Gerechtigkeit

Am Vorabend der Revolution von 1848 waren die sozialen Verhältnisse in Europas stark angespannt. Verschiedene Extreme, Ungleichheit und Naturkatastrophen trafen aufeinander und sorgten für jene soziale Explosivität, welche sich ab dem Frühjahr 1848 in ganz Europa entladen sollte.


Sie speiste sich aus einem höchst ambivalenten Gemisch. Einerseits bestand dieses aus sozialer Not, Hunger, Seuchen sowie prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen. Andererseits verzeichneten viele Länder Europas seit den 1830er Jahren durchaus positive ökonomische Entwicklungen. Die dem Revolutionsjahr vorausgegangene relative Friedenszeit sowie die Verbreitung moderner Industrie- und Landwirtschaftsproduktion hatten diese begünstigt. Was aber machte die soziale Ungerechtigkeit um 1848 konkret aus?

Allgemein waren die Lebensverhältnisse der Menschen sehr unterschiedlich, woran auch der wirtschaftliche Fortschritt dieser Zeit nichts ändern konnte. Vor allem in Großbritannien, Frankreich, Preußen, Sachsen sowie den Regionen Böhmen und Norditalien entstanden zahlreiche moderne Fabriken. Sie verschafften der wachsenden Gruppe des Bürger:innentums große Gewinne, vermehrten ihren Wohlstand sowie ihr gesellschaftliches Selbstbewusstsein.

Gegenüber Adel und Monarchie waren sie zunehmend bereit, politische Freiheiten sowie Mitbestimmungsrechte einzufordern. In den Fabriken arbeitete aber auch eine neue soziale Gruppe: die Arbeiter:innen. Ohne gesetzlichen Arbeitsschutz oder Tarifverträge leisteten sie hier lange Schichten zu geringen Löhnen. Auch Kinderarbeit war dabei keine Seltenheit. Wurden bis dahin die allermeisten Produkte noch traditionell durch das Handwerk gefertigt, standen Handwerker:innen um 1848 den neuen, industriellen Produktionsmöglichkeiten ohnmächtig gegenüber. Konkurrenzunfähig geworden, verarmten ganze Berufszweige von ihnen.

In den 1840er Jahren suchten auch zahlreiche Missernten Europa heim. Ausbleibende Getreideernten und die Kartoffelfäule sorgten von Irland über die Staaten des Deutschen Bundes bis nach Osteuropa für bittere Hungersnöte. Gleichzeitig experimentierte man mit neuen Düngemethoden und dem Einsatz von Maschinen in der Landwirtschaft. Immer mehr Menschen vom Land suchten – nicht selten vergebens – ihr Glück in den wachsenden Städten und ihren Fabriken. Hier lebten sie zunehmend in überfüllten Stadtvierteln wie den Londoner Slums oder den Vororten von Wien. Enge, miserable hygienische Umstände und noch keine moderne Wasserversorgung begünstigten vor allem hier die Ausbreitung von Pandemien wie der Cholera oder Tuberkulose, welche die Medizin erst zum Ende des 19. Jahrhunderts erfolgreich bekämpfen können sollte.

Von Seiten des Staates war kaum Hilfe zu erwarten. Armut galt als natürliche Gegebenheit oder individuelles Verschulden. Die öffentliche Armenfürsorge bestand meist lediglich aus kümmerlichen Almosen. Die Schriftstellerin Bettina von Arnim sammelte in den Jahren vor der Revolution beispielsweise unzählige Daten über die prekäre Lebenslage von Menschen, die ohne eigenes Verschulden in Armut lebten. Die Ergebnisse veröffentlichte sie in einem Buch, das sie dem preußischen König widmete, damit er Abhilfe schaffe. Die Philosophen und Theoretiker Karl Marx und Friedrich Engels veröffentlichten in London noch im Februar 1848 das „Kommunistische Manifest“ als weltweiten Aufruf zur Selbstbefreiung der Arbeiter:innen von Unterdrückung und Ausbeutung.

„Der Staat versorgt die Hilflosen“ war 1848 eine drängende soziale Forderung, eine verzweifelte Reaktion auf die Armut in den unteren Bevölkerungsgruppen. Gesetzliche Krankenkassen, Unfall-, Renten- und Arbeitslosenversicherungen gab es noch nicht. In den europäischen Staaten wurde gefordert, dass Arbeitgeber:innen stärker in die Verantwortung genommen werden und Regierungen die soziale Not in ihren Ländern effektiv bekämpfen und für angemessene Arbeitsverhältnisse sorgen sollten. Ein Recht auf Arbeit wurde vor allem in der Revolution in Frankreich vehement eingefordert.